The ERSTE Foundation Tipping Point Talks 2019
Wie lässt sich heute ein ganzheitliches Konzept für den Wohlstand aller umsetzen? Was bleibt privat und was sind öffentliche Güter, Dienstleistungen, Institutionen, aber auch Verantwortlichkeiten? Wie können wir die tief greifenden Veränderungen, die uns bevorstehen – in Bezug auf das Klima, die Technologie und das Zusammenleben der Menschen – mitgestalten und bewältigen? Wer wird neue Allianzen der Verantwortung bilden? Was wir jetzt brauchen, sind kühne Initiativen.
#4 – Kühnheit, 27. November 2019
Wie lässt sich ein ganzheitliches Konzept für den Wohlstand vieler anstatt nur einiger weniger umsetzen?
Eröffnung
Prosperity. Ein filmischer Essay
15′, NGF Geyrhalterfilm
Grussworte
Boris Marte, ERSTE Stiftung
Vortrag
Felwine Sarr: Wie lässt sich ein ganzheitliches Konzept für den Wohlstand vieler anstatt nur einiger weniger umsetzen?
Bühnengespräch
Christoph Badel, Österreichisches Instituts für Wirtschaftsforschung (WIFO)
Nikolaus Griller, Vizepräsident der Jungen Industrie
Sergiu Manea, Banca Comerciala Romana
Shalini Randeria, Instituts für die Wissenschaften vom Menschen (IWM)
Felwine Sarr, Gaston-Berger-Universität
Sigrid Stagl, Institute for Ecological Economics an der WU Wien
Moderation: Ivan Vejvoda, Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM)
Katharina Kropshofer
Das Thema Bildung ist laut den Bühnengästen des vierten Tipping Point Talks der Schlüssel für eine gute Zukunft
Dem Tipping-Point-Podiumsgespräch über Wohlstand nähern wir uns über verschiedene Perspektiven. Als Einstimmung präsentiert die Wiener Filmproduktionsfirma Geyrhalter Film ein kinematographisches Kaleidoskop der Widersprüche: Ist grölenden Menschen am Münchener Oktoberfest wohl? Wie denken Menschen in Jurten ohne Fließwasser über Wohlstand? Wie jene, die inmitten der bedrückenden Lebendigkeit einer Hennen-Massenhaltung ihre Arbeitstage verbringen, und schließlich jene, die in einem Bergwerk arbeiten?
Nach Felwine Sarrs Ausführungen zu einer Vision des Wohlstands für viele gesellen sich am vierten Abend der Tipping Point Talks fünf Gesprächspartner zu ihm auf die Bühne. „The times they are a changing – die Zeiten ändern sich“, zitiert Moderator Ivan Vejvoda zum Einstieg einen Liedtext von Bob Dylan. „Unser Zivilisationsmodell wird überdacht, nicht nur von Denkern wie Felwine Sarr, sondern auch durch Bewegungen wie Fridays for Future. Es ist an der Zeit, neue Perspektiven in Betracht zu ziehen“, fährt Vejvoda fort.
Ungleicher Zugang zu Bildung hemmt eine Gesellschaft
Als Erste greift Shalini Randeria Sarrs Gedanken auf. Seine Hinweise auf die anhaltende Kolonialisierung von Denkmustern durch den Westen und die Notwendigkeit einer Utopie für Afrika kann sie, die selbst in Indien geboren wurde, gut nachvollziehen. „Ihre Gedanken erinnern mich an Gandhi. Er sagte, dass die Welt für unsere Bedürfnisse genug zu bieten hätte, nicht jedoch für unsere Gier.“ Gandhi habe ein alternatives System wirtschaftlicher Beziehungen, das durch lokale Produktion definiert wäre, propagiert. Doch seine Utopie wurde nie realisiert. Vielmehr schlug das unabhängige Indien einen Pfad der Industrialisierung und Modernisierung ein, samt aller negativen Begleiterscheinungen. Laut Randeria erlaube das gegenwärtige Welthandelssystem gar keinen Wohlstand für alle. Manche Akteure – etwa Unternehmen wie Facebook und Monsanto – würden persönliche Daten horten und ausbeuten. Einstige Gemeingüter würden so kommerzialisiert und von diesen Unternehmen kontrolliert.
Hier tritt Christoph Badelt in die Diskussion ein. Ein Gespräch über Wohlstand müsse auch ein Gespräch über Wachstum sein. Manche sähen schier unendliches Wachstum als großen Irrtum der Moderne. Für andere berge genau dieses Wachstum das Potenzial, notwendige Innovationen und politische Reformen zu ermöglichen. Badelt steht manchen Gedanken Sarrs kritisch gegenüber: „Ich glaube nicht, dass wir nach einem anderen Konzept suchen müssen. Die wichtigere Frage scheint mir, wie wir unter realen politischen und rechtlichen Gegebenheiten Transformation starten können.“
An dieser Stelle äußert sich der rumänische Spitzenbanker Sergiu Manea. Er meint: „Wir wissen alle, dass unser Regelwerk verstaubt ist und kurz vor dem Kollaps steht.“ Dennoch würde er Wohlstand nach wie vor als das Zusammenwirken von Wirtschaftskreislauf und Institutionen definieren. Wohlbefinden und andere neue Aspekte würden immer wichtiger werden und weit über die reine Anhäufung klassischer Güter und Werte hinausgehen. Jedoch seien wir weit davon entfernt, solches Blühen allen angedeihen zu lassen. Das Problem: „Der Zugang zu Bildung – sprich, zu Information, Wissen und kritischem Denken.“ Dieser ungleiche Zugang zu Bildung führe zu den größten Verwerfungen in unserer Gesellschaft. Wir predigten Inklusion und produzierten Exklusion, so Manea. Er kritisiert: „Wir versagen unseren Kindern die nötige Grundbildung in digitaler Ethik, Unternehmertum oder Finanzbildung. Wir müssen sie doch in die Lage versetzen, sich den Problemen der Zeit zu stellen!“
Wirtschaft als komplexes und lebendiges System
Bildung ist auch der Schlüsselbegriff für Nikolaus Griller, Industriellenvertreter und derzeit als Fellow der NGO Teach For Austria auch als Lehrer tätig. Er nennt Bildung als den wichtigsten Baustein, um Wohlstandsgefälle zu überwinden. Er sähe Tag für Tag, dass „Kinder bildungsferner Eltern einen Startnachteil haben.“ Österreich leiste sich eines der teuersten Bildungssysteme der Welt, schaffe aber keine Chancengleichheit. Griller führt die Vorbilder Dänemark oder Neuseeland an, wo Bildung heute komplett neu überdacht werde. „Drei Dinge können wir uns abschauen: die Schulen öffnen, das Format der Unterrichtseinheiten ändern und uns auf Stärken anstatt Schwächen von Lernenden konzentrieren. Wenn wir das tun, kommen wir dem Ziel, die Wohlstandslücke zu schließen, ein Stück näher“, so Griller.
Die Gesprächsrunde kommt nun auf das Klimathema zu sprechen. Die Ökonomin Sigrid Stagl meint, Wohlstand sei ohne Berücksichtigung planetarer Grenzen unmöglich. Der Green New Deal, wie ihn die Europäische Union vorhat, könnte der erste Schritt in Richtung einer besseren Zukunft sein. Laut Stagl könne dieser nur gelingen, wenn Politiker und Politikerinnen die Führung übernähmen. „Wir sollten das Potenzial und die Notwendigkeit individueller Maßnahmen zwar nicht unterschätzen, müssen uns jedoch an die Bedeutung demokratischer und sozialer Institutionen erinnern.“ Der Markt sei selbstverständlich nur eine weitere solche Institution: „Wenn wir unsere Normen – etwa Ungleichheiten – in die Logik des Marktes einbauen, werden wir auch ein entsprechendes Ergebnis in der Gesellschaft sehen.“ Es gälte, interdisziplinär ein Wirtschaftssystem zu entwickeln, das innerhalb planetarer Grenzen funktioniere. Inspiration würden Philosophie und Naturwissenschaften liefern.
Felwine Sarr unterstreicht Stagls Anregung. „Wenn wir die Wirtschaft als ein komplexes, lebendiges System sehen, ähnlich einem Stoffwechsel, dann muss dieses mit den sozialen und politischen Sphären verknüpft werden.“ Er schließt mit einem Wunsch: Die Entscheidungsträger mögen die Gedanken dieses Bühnengesprächs aufgreifen und umsetzen.
Titelbild: Plakate, die Ergebnisse des Nachmittags-Think-Camps im Odeon Theater präsentieren. Foto: © eSel/Joanna Pinker
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