Ion Grigorescu ist einer der wegweisenden bildenden Künstler seiner Generation in Osteuropa. In den letzten Jahren hat sein komplexes Oeuvre im Westen zunehmende Beachtung gefunden, was zur Folge hatte, dass seine Arbeiten durch das Prisma kanonisierter westlicher Kunstgeschichten wahrgenommen wurden. Diese erste englische Ausgabe seiner Tagebücher aus den entscheidenden Jahren 1970 bis 1975 ist eine kleine literarische und kunstgeschichtliche Sensation. Sie berichtigt nicht nur die allzu einfache Interpretation von Grigorescus Konzept- und Performancekunst, sondern bietet Einblicke in die multifokale Denkweise des Künstlers: eine originelle Kritik am Modernismus, die dystopischen Auswirkungen instrumentalisierter Vernunft- und Rationalitätskonzepte, eine Analyse der Subjektivität und ein prüfender Blick in eine Dialektik der Verschwiegenheit und Aufklärung, der Enthüllung und Mystifikation.
Grigorescus Tagebücher sind schriftliche Notizen, die sich um den Status des Bildes drehen und das Verhältnis des Körpers zur Gesellschaft und jenes der Kunst zur Welt in einer tiefgründigen phänomenologischen Neubetrachtung untersuchen. Sein Werk legt eine parallele Konzeption der Öffentlichkeit nahe, die durch die Eloquenz des Körpers greifbar gemacht wird.
In einer poetischen Sprache voller eindringlicher Bildmetaphern reflektiert Grigorescu über seine Beobachtungen der Spannung zwischen den realistischen Effekten des Bildes, der Unterdrückung des Realismus und den verborgenen Spuren, die der Blick durch die Aktivitäten des zunehmend präsenten Unbewussten des kollektiven Gedächtnisses in sich trägt. Neben den begleitenden Zeichnungen, Malereien, Fotografien und Skizzen verstehen sich die Tagebücher als eine Einführung, die es ermöglicht, Grigorescus Kunst als eine seltene Evokation einer einzigartigen Denkweise zu begreifen: eine Haltung.
Diese Publikation ist in der ERSTE Stiftung Bibliothek verfügbar.