Unser Freund und Kollege Jiří Ševčík (1940-2022) ist gestorben. Er war Mitglied des Kunstbeirats der Kontakt Sammlung seit ihrer Gründung im Jahr 2004.
Mit ihm haben wir einen bedeutenden Kunsthistoriker und einflussreichen Denker, einen Mittler zwischen ost- und westeuropäischer Kunst sowie einen exzellenten politischen Analytiker und wunderbaren Menschen verloren. Mit viel Humor und Großzügigkeit hat er sich auch immer an die jüngere Generation gewandt. Er entwickelte gemeinsam mit uns die sammlungspolitische Ausrichtung von Kontakt und ermöglichte, dass Schlüsselwerke der osteuropäischen und österreichischen Neoavantgarde sowie Werke zeitgenössischer Kunst ihren Weg in die Sammlung fanden. Jiří hatte sich früh ein profundes Wissen über die österreichische Kunstszene angeeignet. Seine erste Auslandsreise nach 1968 führte ihn im Jahr 1988 nach Graz. Seither war er in kontinuierlichem Austausch mit Künstler:innen und Kolleg:innen aus Österreich und zeigte sich auch für das Ausstellungsprogramm des Österreichischen Kulturforums in Prag verantwortlich.
In seinem letzten Essay, den er 2017 für den Sammlungskatalog von Kontakt verfasst hatte, merkte er an, „dass der Kunstbeirat in den vielen kritischen Diskussionen, sowohl intern als auch extern, den Versuch unternahm, jedes autoritäre Urteil über die sogenannte ‚Ostkunst‘ zu entkräften und nach neuen interpretativen Ansätzen zu suchen.“ Es war für ihn erhellend, “dislozierte Ähnlichkeiten” in beiden Welten zu entdecken, nämlich die des ehemaligen Westens und des ehemaligen Ostens. Für Jiří erwies sich deshalb Kontakt als ein „einzigartiges Monument kultureller Erinnerung“, das möglicherweise eine „entscheidende Rolle in den radikalen Veränderungen des gesellschaftlichen und politischen Lebens spielen wird, die uns noch bevorstehen.“
Jiřís Reflexion der Geschichte und sein Hinterfragen der utopischen Momente und Ideale unserer jüngsten Vergangenheit, und zwar jener Momente, die den Kunstwerken eingeschrieben sind und die die damit einhergehenden Versuche einer Demokratisierung implizieren, sowie ihre Bedeutung für die Zukunft, kann als sein Vermächtnis angesehen werden.
Als aktiver Protagonist der tschechisch-slowakischen Kunstszene seit den 1960er Jahren definierte er das Verhältnis zwischen Kunst und Politik stets neu. Im Sinne der 1968er Bewegung begriff er Kunst als Resonanzbeziehung mit einer sich ständig ändernden Realität – die die Transformation beeinflusst bzw. antizipiert. Darum forderte er 2017 eine „Revision unserer Wahrnehmung der historischen Wende von 1989/90 sowie ein grundlegendes Neudenken ihrer Bedeutung und Reichweite ein, um so neue Wege zu finden, mit denen die „utopischen Hoffnungen in die Kultur transformiert werden können, um sie in unserem kulturellen Gedächtnis auch in Zeiten der Krise zu bewahren.“
Dies ist für uns ein Auftrag, nicht zuletzt auch aufgrund des gegenwärtigen Krieges in Europa, der – bevor Russland am 24. Februar die Ukraine überfiel – außerhalb unseres Vorstellungsvermögens gelegen ist, und der uns nun zwingt die Grundwerte unserer Demokratie und den Pluralismus gegen die pseudodemokratischen Erscheinungsformen der weltweiten antidemokratischen Regime zu verteidigen. Jiří forderte uns heraus, diese Haltung einzunehmen und die Freiheit außerhalb konventioneller Pfade zu denken.
Wir werden Jiří sehr vermissen.
Silvia Eiblmayr, Georg Schöllhammer, Branka Stipančić, Adam Szymczyk, Boris Marte, Kathrin Rhomberg und alle ehemaligen und aktuellen Mitarbeiter:innen der Kontakt Sammlung sowie das Team der ERSTE Stiftung.
Jiří Ševčík war ein tschechischer Kunsthistoriker, Kurator und Wissenschaftler, dessen Aktivitäten mehrere Generationen von Künstler:innen und Theoretiker:innen beeinflussten.
Seit 2004 war Ševčík Mitglied des Kunstbeirats der Kontakt Sammlung. Von 1962 bis 1965 war er Chefredakteur der Zeitschrift Architektura ČSR. 1966 bis 1989 lehrte er Theorie und Geschichte von Kunst und Architektur an der Fakultät für Architektur der technischen Universität. Von 1990 bis 1993 war er Chefkurator der Galerie der Stadt Prag und von 1993 bis 1996 Direktor der modernen und zeitgenössischen Kunstsammlungen der Nationalgalerie. 1996 bis 2013 amtierte er als Vizerektor der Akademie der bildenden Künste in Prag und war zusätzlich Direktor des akademischen Forschungszentrums AVU, das er 1997 gegründet hatte. Gemeinsam mit seiner Frau Jana Ševčíková publizierte er eine Vielzahl an wichtigen Texten zur tschechisch-slowakischen Kunst. Ševčík ist Träger des Österreichischen Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst. 2018 wurden ihm und seiner Frau vom tschechischen Kulturministerium auch der Staatspreis für ihren lebenslangen Beitrag zur tschechischen Kunst und Kultur verliehen.